Michèle Giannotti

Michèle Giannotti, geboren 1930, wird 1970 die erste Gerichtspräsidentin Frankreichs.

Hintergrund

Dass Michèle Giannotti eine Pionierin des Rechts werden würde, ist zum Ende ihrer Schulzeit kaum abzusehen. Mit 17 wird sie schwanger und heiratet. Ihr erstes Kind stirbt früh, das zweite leidet an Tuberkulose und die junge Familie kämpft mit finanziellen Problemen. Darüber hinaus ist damals gesellschaftlich kaum vorgesehen, dass Frauen eine berufliche Laufbahn verfolgen. Vorbilder hat Giannotti kaum in der männerdominierten Welt des französischen Rechts. Allen Widrigkeiten zum Trotz studiert Giannotti Jura und schliesst ein Jahr nach der Geburt ihres zweiten Kindes ab. Mit 25 tritt sie in den Justizdienst ein und wird 1958 stellvertretende Richterin am Tribunal de grande instance in Paris. Zeitgleich mit der Geburt des dritten Kindes wird sie, vier Jahre später, zur stellvertretenden Staatsanwältin in Fontainebleau befördert. Ihre Vorgesetzten "honorieren" mit der Beförderung Giannottis Ankündigung, eine Woche nach Geburt wieder zu arbeiten. Nach rund zehn Jahren als Staatsanwältin in Fontainebleau und zwei Jahren als Jugendrichterin in Melun findet sich Giannotti in einer komplett anderen Situation wieder: Ihre familiären Umstände haben sich verbessert – und das Frankreich nach 1968 will Frauen Karriere machen sehen. In Kombination mit Giannottis beruflicher Reputation führt dies dazu, dass sie 1970, als erste Frau in ganz Frankreich, zur Präsidentin eines Gerichts ernannt wird. Das Ereignis wird öffentlich zelebriert. Für Giannotti ist es aber nur der Startschuss einer aussergewöhnlichen richterlichen Karriere.

1976 übernimmt Giannotti den Vorsitz des Gerichts in Melun, 1980 denjenigen des Gerichts in Evry und 1984 wird sie die erste Frau, die einem französischen Berufungsgericht vorsteht. Daneben amtet sie im Justizministerium, u.a. als Direktorin der Abteilung Éducation surveillée. Zum Schluss ihrer beruflichen Laufbahn ist sie Conseillère am Cour de cassation, einem der höchsten Gerichte Frankreichs. Während ihrer gesamten richterlichen Laufbahn setzt sich Giannotti aktiv für die Förderung von Frauen in der Justiz und für gewerkschaftliche Anliegen ein. Daneben fordert sie immer wieder Reformen zur Unabhängigkeit der Justiz, etwa die Abschaffung der Ernennung von Mitgliedern der Judikative via Exekutive und versucht, der Öffentlichkeit die Richtertätigkeit näherzubringen.

Giannotti ist damit ein Vorbild und eine Wegbereiterin in der Justiz. Sie zeigt, dass es Frauen (auch mit Kindern) bis weit nach oben schaffen können.

(Quellen: Joly-Coz 2020)

Lebensstationen

  • 1930 geboren als Michèle Mouche in Paris
  • 1953 Abschluss Jurastudium der Université Panthéon-Assas
  • 1955 Eintritt in den Justizdienst
  • 1958 Stellvertretende Richterin am Tribunal de grande instance in Paris
  • 1959-1968 Stellvertretende Staatsanwältin in Fontainebleau
  • 1969-1970 Jugendrichterin in Melun
  • 1970-1976 Gerichtspräsidentin des Landesgerichts in Fontainebleau
  • 1976-1978 Gerichtspräsidentin in Melun
  • 1978-1980 Unterdirektorin für Personal in der Direktion für Justizdienste im Justizministerium
  • 1980-1984 Gerichtspräsidentin in Evry
  • 1984-1985 Gerichtspräsidentin des Berufungsgerichts in Angers (erste)
  • 1986-1988 Directrice de l'Éducation surveillée im Justizministerium
  • 1988-1995 Conseillère (Richterin) am Cour de cassation
  • 2017 Tod

Weiterführende Informationen

  • Joly-Coz, Gwenola: "Michèle Giannotti, la première femme présidente d'un tribunal", in: Journal Spécial des Sociétés 2022, 1, S. 2-5.

Letzte Aktualisierung: L. Pacozzi. Verantwortlich: A. Tschentscher.