Lidia Poët

Lidia Poët, geboren 1855, wird 1883 die erste italienische Rechtsanwältin.

Hintergrund

Lidia Poëts Berufswahl schlägt Ende des 19. Jahrhunderts hohe Wellen im damaligen Königreich Italien. Geboren in eine wohlhabende piemontesische Familie absolviert Poët ein rechtswissenschaftliches Studium an der Università di Torino. Sie ist nicht nur die erste Jurastudentin, sondern erst die zweite Studentin an der gesamten Universität. Nach erfolgreicher Promotion mit einer Arbeit zur rechtlichen Stellung der Frau und abgeschlossenem Anwaltspraktikum besteht sie 1881 mit Bravour die Prüfungen der Turiner Staats- und Rechtsanwaltskammer. Als erste Frau im Königreich stellt sie einen Antrag, um in den Ordine degli Avvocati e Procuratori aufgenommen zu werden. 1883 nimmt die Kammer diesen an. Umgehend wird der historische Akt zum gesellschaftlichen Skandal. Verschiedene Rechtsanwälte -- und am Ende sogar der Generalstaatsanwalt des Königreichs -- fechten die Entscheidung der Turiner vor dem Berufungsgericht an. Dass eine Frau als Rechtsanwältin arbeiten könnte, ist für viele damals unvorstellbar. Prompt wird Poëts Zulassung vom Berufungsgericht für ungültig erklärt. Poët wiederum wehrt sich gegen diesen Entscheid am Kassationsgericht in Turin, welches das Urteil des Berufungsgerichts 1884 aber bestätigt. Die öffentliche Entrüstung ist gross und die Medien schlagen sich auf Poëts Seite -- dennoch bleibt der Juristin der offizielle Titel "Rechtsanwältin" verwehrt, obwohl sie die nötigen Prüfungen abgelegt hat.

In den folgenden Jahren arbeitet Poët in der Kanzlei ihres Bruders sowie im Sekretariat und als Delegierte des Internationalen Gefängniskongresses. Als solche tritt sie insbesondere für die Einrichtung von Jugendgerichten und Resozialisierungsmassnahmen für Gefangene ein -- progressive Forderungen für die damalige Zeit, die erst Jahre später eingeführt werden. Parallel dazu wird sie Mitglied in der Frauenrechtsorganisation Consiglio Nazionale delle Donne Italiane (CNDI) und leitet 1908 sowie 1914 die juristischen Gruppen der ersten beiden italienischen Frauenkongresse. 1919 wird der Zugang zur Rechtsanwaltschaft für Frauen per Gesetz geöffnet. Im Jahr darauf wird Poët -- mit 65 Jahren -- endlich offiziell in die Rechtsanwaltskammer aufgenommen.

(Quellen: Mossmann 2006, Wikipedia, TorinoScienza, lidiapoet.it)

Lebensstationen

  • 1855 geboren in Perrero (Italien)
  • 1878-1881 Jurastudium an der Università di Torino
  • 1881 Promotion an der Università di Torino
  • 1881-1883 Praktikum in einer Kanzlei in Pinerolo
  • 1883 Zulassungsprüfungen zur Rechtsanwaltschaft
  • 1920 offizielle Zulassung als Rechtsanwältin
  • 1922 Wahl zur Präsidentin des Comitato pro vote donne in Turin
  • 1949 Tod

Weiterführende Informationen

  • Bounous, Clara: La toga negata: da Lidia Poët all'attuale realtà torinese. Il cammino delle donne nelle professioni giuridiche, Pinerolo 1997.
  • Olgiati, Vittorio: "Professional Body and Gender Difference in Court: the Case of the First (Failed Women Lawyer in Modern Italy", in: Ulrike Schultz und Gisela Shaw (Hrsg.): Women in the World's Legal Professions, Oxford 2003, S. 419-435.
  • Iannuzzi, Illaria/Tammaro, Pasquale: Lidia Poët: La prima avvocata, Mailand 2022.
  • Ricci, Christina: Lidia Poët: Vita e battaglie della prima avvocata italiana, pioniera dell'emancipazione femminile, Turin 2022.

Letzte Aktualisierung: L. Pacozzi. Verantwortlich: A. Tschentscher.